Archiv Kultur und Soziale Bewegung

Kulturelles Kapital

Erfurt, Juli 2005

Das Archiv zu Gast auf dem ersten Sozialforum in Deutschland, 21.-24. Juli 2005

Materialien zum download:

Anwendung 01
Culture Jamming, Adbusting und Hacktivism

22.Juli: 9.30 – 11.00 Uhr
mit: Margarita Tsomou

Nach einer kurzen Einführung in das Phänomen des Culture Jamming, mündete die Diskussion in die weitergehende formale und soziologische Interpretationen der Praktiken und der Motive von Aktivisten. Ziel war es über offene Fragen zu sprechen, die in der Culture Jamming-Bewegung kursieren, weshalb eine gewisse Kenntnis des Gegenstands vorausgesetzt wurde. Einige Diskussionspunkte des sehr fruchtbaren Gesprächs:

Zunächst wurde zu bedenken gegeben, dass die Praxis der Werbungsverfremdung oft Gefahr läuft, das Ziel einer Attacke der ästhetischen Codes der Werbung zu verfehlen, da sie die dominierende Hochglanzästhetik nachahmt und daher kritiklos affimiert. Als die Frage der Vereinnahmung der Techniken des Culture Jamming durch die Verkaufswirtschaft aufkam, war man sich einig, dass dieser Umstand kein Grund zur Resignation sei, sondern eher dazu motiviere, „Gegenbilder“ zu produzieren. Nicht gehe es darum, der Bilderflut der Mediengesellschaft weitere Bilder hinzuzufügen. Wolle man mit Culture Jamming auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen, müssten die ästhetischen Erzeugnisse etwa mit sprachlicher Argumentation und Kampagnen kombiniert werden.
Culture Jamming wurde als eine prinzipiell negative Interventionsart auf bestehendes Zeichenmaterial beschrieben. Man sprach sich dafür aus, dass ästhetische Produkte einer sozialen Bewegung sich nicht nur darin erschöpfen können, sich an hegemonialen Formen abzuarbeiten. – Der symbolische Raum müsse von uns auch positiv, also mit neuen und eigenen Bildern und Zeichen und Vorschlägen besetzt werden.
Ein weiterer Diskussionspunkt entzündete sich an der Definition der Culture Jamming-Bewegung als einer Bewegung, die in der Tradition der „Künstlerkritik“ im Sinne von Chiapello/Boltanski („Der neue Geist des Kapitalismus“) steht. Insofern sich die Kapitalismuskritik in Jammerkreisen gegen die Unfreiheit und Standardisierung des Lebens, die Ökonomisierung menschlicher Kreativität, die Normierung im Alltag und die Manipulation des Denkens wendet, sei sie der „Künstlerkritik“ zuzuordnen. Dieses umso mehr als sich die Tendenz zur Abgrenzung der Culture Jamming-Bewegung gegenüber den Vertretern der Sozialkritik abzeichnet. Während letztere in erster Linie Gleichheitsforderungen in den Mittelpunkt ihrer Kämpfe stellen, setzten die Jammer sich für Freiheitsforderungen ein. An dieser Stelle war ein Vergleich der aktuellen Jammerszene mit dem Vorgehen John Heartfields in den 20ern interessant. Heartfield, einer der wichtigsten historischen Vorläufer der Jammer, hatte sich in der damaligen – freilich ganz anders beschaffenen – sozialen Bewegung stets um den Schulterschluss mit Vertretern der Sozialkritik bemüht.

Luther Blisset, Sonja Brünzels, autonome a.f.r.i.k.a. gruppe (Hg.), Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin, Hamburg, Göttingen 2001.

Christoph Behnke, Culture Jamming und Reklametechnik, siehe: www.republicart.net—behnke01_de.htm 01.03.05.

Culture Jamming. Kokerei Zollverein. Zeitgenössische Kunst und Politik, Reader zusammengestellt von Jeronimo Voß, Essen 2003.

Thomas Edlinger, DYI-Norm. Zur Konjunktur von Kreativität und Nonkonformität, in: Springerin, Band X Heft 2, Sommer 2004.

Naomi Klein, No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht, Bielefeld 2001.

Anwendung 02
Plakate und Grafikdesign im Kontext sozialer Bewegungen

22.Juli: 11.30 – 13.30 Uhr
mit: Erik Tuckow und Sandy k.

„Design jenseits von schönen Plakaten, politische visuelle Kommunikation und andere Missverständnisse“, unter diesen Stichworten war die Präsentation angekündigt worden.
Anhand vieler Beispiele von politischen Plakaten und deren Entstehungsgeschichte wurde nachvollziehbar, dass die Wirkung eines Plakats nicht nur von einer gut gestalteteten Message abhängt, sondern mindestens ebenso von den jeweiligen Sprachregelungen und Codes des adressierten Publikums sowie der Plakatkleber, dem Kontext der Hängung sowie den Geschmacksvorstellungen der Auftraggeber.

In ausgiebiger Diskussion kamen wir auf so unterschiedliche und grundsätzliche Themen zu sprechen wie etwa die Frage nach der ästhetischen und (damit) politischen Verantwortung von Designern beim Trendsetting innerhalb einer Bewegung oder den Möglichkeiten und Grenzen kollektiver Plakatgestaltung.

engagement und/et graphic design, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.), Berlin 2000.

Liz Mc Quiston, Graphic Agitation 02, London 2004.

Anwendung 03
Kritik der Kulturellen Strategie - zur Politik der Sichtbarkeit in sozialen Bewegungen.

22.Juli: 14.30 - 16.30 Uhr
mit: Jeronimo Voß

Anhand verschiedener Beispiele, insbesondere der „Intermittants du Spectacle“ in Frankreich, sollten Möglichkeiten, Grenzen und Probleme kultureller Repräsentationsstrategien im Kontext politischer Organisierung diskutiert werden.
Wie können Kulturschaffende ihre Kompetenz der Produktion von Sichtbarkeit nutzen, um soziale Bewegungen in ihrer konkreten Herausforderung zu unterstützen, neue kollektivierbare Gemeinsamkeiten zu entwickeln und zu organisieren? Die Intermittants leisteten vor allem im Sommer 2003, als ‚Kulturprekäre’, durch Bestreikung von Kulturfestivals und kulturellem Aktivismus, öffentlichkeitswirksamen Widerstand gegen den Sozialabbau in Frankreich. Strategisch argumentierten gerade die Künstler unter ihnen immer auch mit der relativen Autonomie der ‚Kunst’ und sogar der ‚Kreativität’, auch in Abgrenzung z.B. zur Kultur der Massenmedien.
Das Visible Collective aus Ne Sichtbarmachung. In Gegenüberstellung dieser beiden Strategien wurde versucht, die Probleme und Potentiale der Kooperation zwischen Kunst und sozialer Bewegung zu diskutieren

Green Pepper Project: Precarity, 2005, Film-DVD, darin: ‘Intermittants’.

Barbara Serré-Becherini: Kritik der kulturellen Strategie, In: Jungle World: The Planet 01, 2004.

Brian Holmes: Reverse Imageneering, Towards the New Urban Struggles, 2005.

Visible Collective: www.disappearedinamerica.org

Anwendung 04
Eine Übung in angewandter Kunstkritik

23. Juli: 11.30 – 13.30 Uhr
mit: Michel Chevalier

Erklärtes Ziel dieser Anwendung war, jene von Klischees (und trendiger Sprache) aufgebauten Hindernisse zu überwinden, die beim Verständnis der Bedingungen, Ansätze und Motive von Kunstproduktion eine Rolle spielen.
Aufgrund von zeitlichen Beschränkungen und technischen Hindernissen nahm der Workshop eine kondensierte Form an: eine Diaprojektion, die Untersuchung von Kunstmagazinen und Erfahrungsaustausch.
Die Gruppe schaute sich einige Ausschnitte des Videos „Eva Cockroft Reads: Artforum“ (1984) vom New Yorker Paper Tiger TV-Kollektiv an. In diesem Video berichtet Cockroft von einer konservativen Wende des Kunstmagazins Artforum durch Herausgeberwechsel anlässlich des Drucks der Anzeigenkundschaft von Galerien. Ob dieser Fall symptomatisch für einen paradigmatischen Wechsel ist, der den Übergang von den 70ern zu den 80ern markiert und bis heute die Kunstwelt bestimmt, wurde diskutiert. Unter diesem Aspekt wurde anschließend die Institutionelle Kritik der 90er der Institutionellen Kritik der 70er zur Seite gestellt. Unterschiede zwischen Edukation und Aufwertung, Soziologie und Cultural Studies wurden thematisiert.
Auch gab es eine Debatte darüber, welche subversive Strategie die beste ist: der Versuch, am Prozess des Kapitalismus mitzuwirken, in der Erwartung und gezielten Beschleunigung seiner Krise, die u.a. die „Seifenblase Kunst“ platzen lassen würde oder ein „Stellungskrieg“-Modell, das u.a. die These eine nahenden Krise des Kapitalismus als Mythos betrachtet. Außerdem wurde die Frage gestellt, was gute Kunst sei, ob eine solche überhaupt möglich ist oder je hervorgebracht wurde.

Paper Tiger TV Video Nr. 58, Eva Cockcroft Reads: Artforum, New York, 1984.

Pierre Bourdieu, La distinction, Paris 1979.
Luc Boltanski, Ève Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme, Paris, 1999.

Nathalie Heinich, Le triple jeu de l´art contemporain, Ed. de Minuit, 1998.

J.V. Martin, J. Strijbosch, R. Vaneigem, R. Vienet, Réponse à une enquête du centre d´art socio-expérimental (1963), in: Internationale Situationniste, Paris, Fayard, 1997, S. 404-408.

Richard Bolton, Enlightened Self-Interest: The Avant-Garde in the 80´s, in: Grant H. Kester (Hg.), Art, Activism, Oppositionality Essays from Afterimage, Durham, Duke 1998, S. 23-50.

Red Group, Manifesto (1924), in: Charles Harrison and Paul Wood (Hg.), Art in Theory 1900 -1990, Cambridge, Blackwell 1992, S. 388-389.

Anwendung 05
Offene Diskussion

22. Juli: 17.00 - 19.00 Uhr
mit: Rahel Puffert und Nicole Vrenegor

Ursprünglich war die Idee der offenen Diskussion, das Thema »Kultur & Soziale Bewegung« aus der jeweiligen Sicht der Anwesenden zu diskutieren. Die einleitende Erzählung der Entstehungsgeschichte des »Archiv Kultur & Soziale Bewegung« unterstützte jedoch das Bedürfnis der Teilnehmenden, mehr über die konzeptionellen Grundgedanken der Raumarchitektur zu erfahren und ihre Eindrücke hierzu auszutauschen. Auch lag uns daran, auf die unterschiedlichen inhaltlichen Motivationen innerhalb der Gruppe hinzuweisen, die sich in der Materialsammlung widerspiegeln und die im Vorfeld zu (oft) kontroversen und (meist) produktiven Diskussionen geführt hatten.

Die BesucherInnen brachten ihre Kritik und Anregungen zum Archiv im Hinblick auf weitere Einsätze an anderen Orten an und schätzten dessen grundsätzliche Anschlussfähigkeit an kritische Öffentlichkeiten ein. Ausschnitte:
Eine Fotografin wies uns auf unseren akademischen Sprachgebrauch hin, der vor allem in Diskussionen Ausschlüsse erzeuge und einem an Kooperation und „Umverteilung“ interessierten Sprechen zuwider laufe.

Ein Aktivist/Journalist gab zu Bedenken, dass das Kulturverständnis vieler linker Gruppierungen, sich von unserem stark unterscheide und von großer Skepsis gegenüber „Kunst“ geprägt sei.
Ein Künstler kritisierte die formale Ausführung der Plots und Boxen, fand die Gesamtästhetik „arty“, aber nicht gut genug, um im Kunstkontext bestehen zu können. Ein Verleger freute sich vor allem an der Visualisierung der Bücher und ermutigte uns weiter zu machen.